Vergeltung

Die Kriegsgefangenen verrichteten in Neuenkirchen-Land schwere Arbeit: Gelände roden und trockenlegen, Gräben ziehen, Baracken bauen

Deutsches Kaiserreich ließ Franzosen schuften / Historiker Lothar Kurz findet altes Fotoalbum

Fotografien aus dem Repressalien- und Kriegsgefangenenlager des Ersten Weltkriegs in St. Arnold sind selten. Bisher bekannt waren nur einige wenige Aufnahmen von Baracken, Personen waren darauf nicht zu erkennen. Daher ist der Fund des Rheiner Historikers Dr. Lothar Kurz für die Ortsgeschichte St. Arnolds eine kleine Sensation: Im Stadtarchiv Voerde am Niederrhein fand Kurz zufällig ein Album mit Fotos von der ersten Anlage des Vergeltungslagers durch französische Kriegsgefangene. Die Fotos stammen aus der Zeit zwischen dem 5. Juli und dem 30. August 1915.
Die MV berichtete von den derzeitigen Ausgrabungen in St. Arnold. Bevor dort ein Gewerbegebiet errichtet wird, erforscht der Archäologe Dr. Gerard Jentgens im Auftrag der „Außenstelle Archäologie für Westfalen“ des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) sowie der Gemeinde Neuenkirchen das Bodendenkmal. Die Funde sollen dokumentiert und zum Teil archiviert werden, Jentgens hofft, einen genauen Lageplan des früheren Lagers erstellen zu können.
Ein Senftopf aus dem Ersten Weltkrieg
Heinrich Fischer berichtet bereits 1997 in seinem Buch „750 Jahre Neuenkirchen“ über das Kriegsgefangenen- und Repressalienlager in Neuenkirchen-Land (erst später wurde der Ortsteil St. Arnold genannt). Im Sommer 1915, mitten im Ersten Weltkrieg (1914-1918), errichtete es die Militärverwaltung für rund 1000 Gefangene. Hintergrund war eine Vergeltungsmaßnahme der deutschen Regierung: Französische Truppen hatten 1914 in der deutschen Kolonie Togo in Afrika die Schutztruppe zur Aufgabe gezwungen und als Gefangene in das benachbarte, frühere Königreich Dahomey gebracht. Dort mussten die Gefangenen – entgegen dem Völkerrecht – in glühender Sonne Schwerstarbeit verrichten. So berichtet es Fischer in seiner Orts-Chronik. Andere Quellen berichten von deutschen Kriegsgefangenen, die von französischem Militär in der Nähe von Biskra (Osttunesien) untergebracht wurden. Auch dort herrschte ein unerträgliches Klima, die Gefangenen hatten weder frisches Trinkwasser zur Verfügung, noch Gelegenheit zum Waschen oder zum Baden.
Wie dem auch sei: Nach der Logik der damaligen Zeit forderte das deutsche Kaiserreich Vergeltung: Als Gegenmaßnahme sollten Repressalienlager eingerichtet werden – auch in Neuenkirchen-Land. Hierzu wurde Generalmajor Leo Cederholm (1852-1934) als Kommandant des Kriegsgefangenenlagers Friedrichsfeld (heute Stadtteil von Voerde) beauftragt, von den französischen Gefangenen seines Lagers 1000 für die Überstellung auszuwählen. Sie sollten in Neuenkirchen-Land schwere Arbeit verrichten: Gelände roden und trockenlegen, Gräben ziehen, Baracken bauen.
Aufnahmen zwischen dem 5. Juli 1915 und dem 30. August 1915
Von diesen Arbeiten zur Anlage des Lagers zeugen die Fotos aus dem Album, das Lothar Kurz in Voerde entdeckt hat. „Gemäß der Widmung handelt es sich um Aufnahmen, die zwischen dem 5. Juli 1915 und dem 30. August 1915 im Vergeltungslager Neuenkirchen-Land aufgenommen wurden“, sagt Kurz. Adressat der Widmung war Generalmajor Leo Cederholm; der Fotograf ist nicht bekannt. „Das Album wurde 1986 auf Initiative des engagierten Voerder Heimatforschers Karl Göllmann aus dem Nachlass General Cederholms von einer seiner Töchter an das Stadtarchiv Voerde verkauft“, hat Kurz erfahren.
Die Fotografien des Albums zeigen wohl zunächst die ursprünglich sehr schlichten, aus Bäumen und Sträuchern gefertigten Unterkunftshütten sowie Kultivierungsarbeiten (Drainagen, Planierungen und Rodungen), durch die das Gelände erst einmal vorbereitet werden musste, sodann die Errichtung und Einrichtung von Gefangenenzelten und das als Holzbaracke ausgeführte Verwaltungsgebäude.
Heinrich Fischer berichtet, dass die diplomatischen Verhandlungen zwischen Frankreich und Deutschland in der konkreten Gefangenenfrage schnellen Erfolg hatten und das Lager „bald geräumt“ wurde. Nach Auskunft Göllmanns wurden die 1000 französischen Kriegsgefangenen am 19. August 1915 nach Friedrichsfeld zurückgebracht.
Später „normales“ Kriegsgefangenenlager
„Es bleibt unklar, ob die Anlage weiterhin als Vergeltungslager verwendet wurde“, sagt Lothar Kurz. Nach Ausweis schriftlicher Quellen sei jedoch sicher, dass sie spätestens ab dem 13. September 1915 als „normales“ Kriegsgefangenenlager diente. Heinrich Fischer schreibt dazu: „Noch bevor die letzten französischen Gefangenen verlegt waren, kamen die ersten russischen Gefangenen, die bis Mitte 1916 blieben und dann auf kleiner Läger in der Umgebung aufgeteilt wurden.“ (Fischer, S. 209ff.)
Später wurde das Kriegsgefangenenlager auf 31 Hektar ausgebaut, es entstanden feste Baracken, deren Spuren noch heute im Boden zu finden sind – und die derzeit in St. Arnold archäologisch erfasst werden. Nach einem Umbau des später leer stehenden Lagers erfolgte eine Umnutzung zu einem Munitionslager, nach dem Ersten Weltkrieg wurde laut Fischer hier Munition zerlegt.
Schriftliche Aufzeichnungen aus der Zeit des Kriegsgefangenenlagers gibt es nicht mehr. „Sie wurden in Potsdam verwahrt und 1945 im Zweiten Weltkrieg zerstört“, berichtet Lothar Kurz.

Quelle: MV-Online

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